Hildegard und Matthias Haese
Dipl. Individualpsychologische Berater
   
Was bedeutet der Name „Individualpsychologie“?
Der Name leitet sich ab von dem lateinischen Wort individuum und bedeutet, dass der Mensch ein unteilbares, also ganzheitliches Wesen ist. Eine Unterteilung in Bewusstes und Unbewusstes, Kopf und Bauch, Gedanken, Gefühle und Handlungen sind Denkmodelle, die in Beratung und Coaching manchmal hilfreich sind, um Zusammenhänge, Ursachen und Auswirkungen in bestimmten Situationen besser zu verstehen. Die Individualpsychologie betrachtet sie jedoch nicht als selbständige Kräfte, die im Menschen wirken und ihn zu Handlungsweisen treiben.
Was kennzeichnet das Menschenbild der Individualpsychologie?
Der Mensch ist ein ganzheitliches Wesen.
Der Mensch ist ein soziales Wesen: Jeder Mensch lebt in einer Gemeinschaft mit anderen Menschen, z.B. in seiner Familie, im Freundeskreis, am Arbeitsplatz oder im Verein, und möchte sich dort mit seinen Fähigkeiten und Stärken konstruktiv einbringen – zum eigenen Wohl und zum Wohl der Gemeinschaft.
Alle Menschen sind in ihrer persönlichen Einzigartigkeit sozial gleichwertig, unabhängig von ihrer gesellschaftlichen Stellung.
Jeder Mensch trifft Entscheidungen: Jeder Mensch kann lernen, sich in alltäglichen oder schwierigen Situationen anders zu verhalten. Dadurch hat er die Möglichkeit, sein Leben in eine positivere Richtung zu lenken und zum Gestalter seines Lebens zu werden. Es bedeutet auch, dass er die Verantwortung für sein Leben übernimmt.
Der Mensch ist zielgerichtet: Jeder Mensch verfolgt bestimmte Ziele in seinem Leben. Manche davon sind ihm bewusst, andere wiederum verfolgt er unbewusst und automatisch. Um das Verhalten eines Menschen zu verstehen, müssen wir auch seine Ziele kennen.
Weitere wichtige Grundbegriffe der Individualpsychologie
Lebensstil
In den ersten Lebensjahren entwickelt jeder Mensch eine Vorstellung darüber, wie er ist, wie andere Menschen sind, wie Beziehungen zwischen Menschen sind und wie das Leben generell ist. Diese Vorstellung beruht auf den eigenen Erfahrungen, Beobachtungen und Interpretationen. Dieses zum großen Teil unbewusste Modell, den Lebensstil, wendet jeder Mensch nicht nur in der Kindheit, sondern auch als Erwachsener an.
Ermutigung
Wenn wir gute Leistungen erbringen, z.B. in der Schule oder im Beruf, dann bekommen wir gute Beurteilungen und Anerkennung oder anders gesagt: Wir werden gelobt. Dann fühlen wir uns kompetent, in unserem Selbstbewusstsein gestärkt und sind motiviert, uns weiterhin für die Sache oder für die Gemeinschaft zu engagieren.
Was passiert aber, wenn wir uns anstrengen, mit allen Kräften einsetzen, aber das Ergebnis entspricht nicht den eigenen Erwartungen oder denen der anderen? Wie schnell werden dann die Fehler und die Schuldigen gesucht, und das hohe Engagement wird völlig übersehen. Dann fühlen wir uns eher inkompetent, Selbstzweifel werden geschürt und bei der nächsten anstehenden Aufgabe werden wir vorsichtiger, warten ab und überlassen die Herausforderung vielleicht eher mal anderen. Wir fühlen uns entmutigt.
Wie viel sinnvoller wäre es, den Einsatz anzuerkennen und dann zu prüfen, was man beim nächsten Mal anders machen kann? In einer fehlertoleranten Atmosphäre fühlen wir uns ermutigt, zu lernen, auszuprobieren, Ideen zu entwickeln und uns in ein Team einzubringen.
Zugehörigkeitsgefühl und Gemeinschaftsgefühl
In einem ermutigenden Umfeld können wir unser Selbstvertrauen entwickeln und erleben uns als einen wertvollen Teil der Gemeinschaft. Wir fühlen uns ihr zugehörig und sind motiviert unsere Fähigkeiten und Stärken in die Gemeinschaft einzubringen. Das Gemeinschaftsgefühl ist eine starke Kraft, die sowohl persönliches Wachstum als auch das Wohl der Gemeinschaft gleichermaßen fördert. Alfred Adler war die Entwicklung des Gemeinschaftsgefühls ein zentrales Anliegen.
Gründer und Wegbereiter der Individualpsychologie
Alfred Adler
Alfred Adler (1870 – 1937)
Alfred Adler begründete die Individualpsychologie aufgrund seiner Erfahrungen, die er als Arzt und Psychotherapeut bei seinen Patienten und ebenso bei sich selbst machte. Neben anderen bedeutenden Vertretern der Tiefenpsychologie arbeitete er zunächst zehn Jahre u.a. mit Sigmund Freud zusammen, bevor er sich entschied, seine Erkenntnisse als eigenständige tiefenpsychologische Richtung weiterzuentwickeln.
Dabei war es ihm wichtig, dass die Inhalte der Individualpsychologie jedermann zugänglich sind. Daher arbeitete er an der Einrichtung von Erziehungsberatungsstellen und an der Ausbildung von Erziehern mit und hielt zahlreiche Vorträge an Volkshochschulen. Darüber hinaus hielt er Gastvorlesungen an Universitäten in Europa und den USA.
Rudolf Dreikurs
Rudolf Dreikurs (1897 – 1972)
Rudolf Dreikurs, ebenfalls Arzt und Psychotherapeut, war ein Schüler von Alfred Adler. Sein Hauptanliegen war die Verbreitung und Weiterentwicklung der Individualpsychologie. So ermutigte er die Menschen, sich vom Perfektionismus hin zum „Mut zur Unvollkommenheit“ zu entwickeln.
Rudolf Dreikurs war die Ermutigung in der Erziehung besonders wichtig. Er gründete Alfred-Adler-Institute in Chicago und Tel Aviv, sowie die Vereinigung von Kinder- und Elternberatungsstellen in Chicago. Durch seine erfolgreiche Arbeit und seine zahlreichen Veröffentlichungen besonders auf pädagogischem Gebiet gelangte die Individualpsychologie zu internationaler Anerkennung.
Erik Blumenthal
Erik Blumenthal (1914 – 2004)
Nach dem Abitur wollte Erik Blumenthal Psychologie studieren, was ihm aus politischen Gründen zunächst verwehrt wurde. Trotz der widrigen Umstände ließ er sich nicht entmutigen, sondern verwirklichte seinen langgehegten Wunsch im Alter von 38 Jahren. Mit Rudolf Dreikurs verband ihn eine langjährige Zusammenarbeit und tiefe Freundschaft. Mit internationalen Vorträgen und zahlreichen Veröffentlichungen trug Erik Blumenthal wesentlich zur Verbreitung der Individualpsychologie bei.
Antonia Schoenaker (1930 – 1994) und Theo Schoenaker (*1932)
Antonia und Theo Schoenaker zeichnen sich durch ihre außergewöhnliche Empathie und ihre Überzeugung aus, dass man selbst lebenslang gefestigte Verhaltensweisen durch konsequentes Training verändern kann.
Neben verbaler Selbsterfahrung integrierten sie auch die nonverbale Selbsterfahrung in ihre therapeutische Arbeit, wie z.B. die Konzentrative Bewegungstherapie. Sie entwickelten eine Reihe praxisorientierter Konzepte, die eine wachsende Verbreitung finden. Hierzu zählen u.a. die Individualpsychologische Sozialtherapie, die Individualpsychologische Stotterertherapie und das Encouraging-Training. Gemeinsam gründeten sie das Rudolf-Dreikurs-Institut (später Adler-Dreikurs-Institut), um die Individualpsychologie möglichst vielen Menschen zugänglich zu machen.